Geflüchtet aus der Ukraine: Alina (7) will wieder tanzen
Text: Annika Fischer, Fotos: Jakob Studnar/Kindernothilfe
Tudora. Sie sind nicht gekommen, um zu bleiben. Aber nun ist es doch so: Der Krieg in der Ukraine bleibt auch, er dauert schon bald zwei Jahre. Die Menschen, die flohen, hastig und mit leichtem Gepäck bis zur nächsten rettenden Grenze, die strandeten in den Nachbarländern Moldau und Rumänien – sie brauchen jetzt mehr als etwas zu essen, ein paar Kleider, eine Matratze. Sie brauchen ein neues Zuhause. Die diesjährigen Weihnachtsspenden von WAZ und Kindernothilfe sollen ihnen beim Ankommen helfen.
Maria kam mit ihren drei Kindern im Frühling 2022 aus Odessa. Sie wollte einen Ort, an dem sie friedlich schlafen konnten – und spätestens im Herbst wieder zurück. Aber es wurde Sommer, Herbst und Winter, „und jetzt“, sagt Maria, 41, traurig, „ist schon wieder Winter“. Swetlana fuhr „ins Nichts“, als die Panzer nach Mykolajiw kamen und ihre Tochter schrie vor Angst. Sie wollte für eine Woche weg, einen Monat… „Wir warten“, sagt Swetlana, 39, „und verlieren nicht die Hoffnung.“
Ukrainer wohnen in halb verfallenen Häusern
Dabei könnte man sie verlieren an diesem Ort. Tudora ist ein unscheinbares Dorf tief im Osten der Republik Moldau, das wirkt, als seien seine Farben verblasst. Ein Zipfel Land wie ein Finger, von drei Seiten von der Ukraine umgeben: Hinter der großen Grenzstation führt die Hauptstraße weiter Richtung Odessa, die Bäume auf der anderen Seite des Flusses wachsen in den ukrainischen Himmel. Der vergangene Winter in Tudora war so hart, dass die Dorfbewohner ihre Pfirsichbäume verfeuern mussten, aber nun haben sie keine Früchte mehr, die sie verkaufen könnten.
Aber an wen auch: Der Flecken läuft leer, es gibt wenig Arbeit und viel Armut. Wer im gut 60 Kilometer entfernten Odessa einen Job hatte, kann dort nicht mehr hin, auch die Märkte jenseits der Grenze kann niemand mehr erreichen. Von 1900 Dorfbewohnern, Tendenz fallend, sind derzeit 147 Ukrainer. Sie wohnen in halb verfallenen Häusern, die schon lange leer stehen. Manchmal können sie von hier aus die Drohnen über der Ukraine fliegen sehen und die Explosionen hören. Einmal war die Erschütterung so stark, da rannten sie verschreckt aus ihren Häusern. Oma Olena aus Odessa zuckt jedes Mal zusammen, wenn das Trafohäuschen Geräusche macht: „Es klingt wie die Sirenen.“
Über die Grenze nach Moldau: Für eine Weiterreise fehlte der Mut
Slava behauptet, es war nur wegen des Flusses, in dem er angelt mit Erlaubnis des Bürgermeisters. Aber das ist nicht einmal die halbe Wahrheit: Jeden Morgen geht der 65-Jährige hinaus mit seinem Fernglas, „ich kann von hier die Heimat sehen“. Manchmal nimmt er seine Enkelin mit: „Schau, Alina, dort drüben ist unsere Ukraine.“ Die Siebenjährige mag nicht zuhören, wenn die Erwachsenen von der Flucht erzählen, sie schaut weg, wenn sie diesen sehnsuchtsvollen Blick in die Ferne haben und sagen: „Wir wollen nach Hause.“
Bomben und Raketen: Die alten Menschen können nicht wegrennen
Alle Ukrainer sagen das, immer wieder, aber dann zeigen sie Handy-Videos von Bomben, deren Feuer daheim die Nacht erhellt. Oder reden von Leuten, die aus Orten stammen, die es gar nicht mehr gibt. Wenn sie vom Krieg sprechen, auf Ukrainisch, auf Russisch, dann sind diese Worte immer zu verstehen: Rakete, Drohne, Bombe. Wer Alina fragt, was sie einmal werden will, bekommt jede Woche eine andere Antwort. Aber meistens möchte sie „Reisende“ sein. Das Kind will weg, irgendwohin, vielleicht ans Schwarze Meer, wo sie immer Urlaub machten. Neulich hat sie einen Koffer gemalt mit lauter Herzen darin.
Aber es ist immer noch Krieg, Alina kann nicht weg aus Tudora, wo sie wenigstens dieses Zentrum von Concordia haben. Malen kann sie dort, Hausaufgaben machen, spielen. Die Frauen helfen dort freiwillig, gerade basteln sie mit den Kindern „Väterchen Frost“ aus Filz. Ein Dorfbewohner dirigiert ehrenamtlich einen Chor; zum Jahrestag des Krieges sangen sie moldawische und ukrainische Lieder. In den ersten Wochen des Krieges haben die Leute den Flüchtlingen Placinta an die Grenze gebracht, das gefüllte Nationalgebäck aus Blätterteig. Längst sorgen sie für Wohnraum, Aufmunterung, ein paar kleine Aufgaben. Sie trösten die Kinder und lenken die Alten ab: „Besonders sie haben Angst“, weiß Veronika, „sie erinnern sich an schlechte Zeiten, und sie können nicht wegrennen.“
Hoffnung auf eine kurze Flucht war ein Irrtum: Zwei Jahre Krieg in der Ukraine
Es sollte eine Nothilfe sein, aber sie stellen sich darauf ein, dass sie von Dauer sein wird. Fast zwei Jahre Krieg, das bedeutet auch, dass Alinas Oma Olga jetzt schon zum zweiten Mal Gemüse geerntet hat im Garten. Und dass Opa Slava wieder Wein gekeltert hat, den zweiten Jahrgang. Die Erwachsenen stoßen an „auf den Frieden“, immer. Slava hat vor dem Haus neuen Beton gegossen, er hat lustige Lämpchen gebastelt, die aussehen wie große Schneeflocken, damit man nicht immer das große Licht anmachen muss. Es hilft ihnen, „man kann dabei vergessen“, sagt Olga. Sie muss nicht immerzu an Mikolajiw denken, „ist alles noch da, ist alles noch heil“?
Nebenan, die Familie von Maria, fühlt anders. Sie lassen ihre wackelige Hütte so, wie sie ist, mit den Plastikblumen in der Ecke, mit dem riesigen Teppich an der Wand, den mit Plastik dichtgeklebten Fensterhöhlen. „Wir fassen es nicht an, es ist nicht von uns.“ Es ist, als wollten sie nicht ankommen. Maria zeigt Fotos von ihrer Wohnung in Odessa, sie hatten sie gerade renoviert: heller Fußboden, weiße Wände, die Waschmaschine! In Tudora müssen sie zu Concordia, um die Wäsche zu waschen und sich selbst. Die wenigsten im Dorf haben fließendes Wasser, in ganz Moldau hat nur jedes fünfte Kind Zugang zu sauberem Wasser. Maria aber klagt nicht. „Früher war es wichtig, wie man wohnt. Heute, dass man wohnt.“
Dass der Krieg aufhört, können sie nicht schenken
Bei Concordia Moldova, der Partner-Organisation der Kindernothilfe in der Hauptstadt Chișinău, suchen sie in diesen Tagen für 697 Kinder einen „Santa“. Einen, der die 697 Geschenke bringt, die sie auf Wunschzettel geschrieben haben. Das war gar nicht so einfach: „Die Kinder wissen nicht, wie man träumt“, sagt Mitarbeiterin Constanta. Sie haben es ihnen beibringen müssen, ihnen geraten, was sie sich wünschen sollen. Nicht nur Milchpulver, Socken oder dass Mama und Papa gesund sind. „Du malst gern?“, hat Constanta gefragt. „Dann könntest du dir Stifte wünschen.“ Süßigkeiten packen sie für alle ein.
Dass der Krieg aufhört, können sie nicht schenken. Dabei ist das der größte Wunsch der Menschen aus der Ukraine. „Alle“, sagt Swetlana in Tudora, „wollen nur, dass Frieden ist.“ Ihre Tochter Alina will nach Hause, ihre Freunde wiedersehen. Sie will wieder tanzen, Hip-Hop am liebsten. „Ein Kind muss aktiv sein“, sagt ihre Mutter, „und nicht so viel nachdenken.“ Ihr selbst geht es ja so: „Mit den Gedanken und mit der Seele“ ist sie in Mykolajiw. „Wir sind hier, aber nicht zu Hause.“ Wie lange noch, Swetlana? „Ich weiß es nicht. Meine Wünsche passen nicht zur Wirklichkeit.“
So können Sie helfen
Etwa sechs Millionen Menschen aus der Ukraine flohen seit Kriegsbeginn aus ihrer Heimat, darunter mehr als 80 Prozent Frauen mit ihren Kindern. Die andere Möglichkeiten nicht hatten, schafften es nur über die nächste rettende Grenze: in die Republik Moldau oder nach Rumänien. Zurzeit sind in beiden Ländern rund 200.000 ukrainische Flüchtlinge registriert. Aus der Soforthilfe der Organisationen vor Ort ist längst eine dauerhafte Unterstützung geworden. Sie haben gelernt, was auch die Geflüchteten immer noch begreifen müssen: Der Krieg ist nicht morgen vorbei. Längst brauchen die Familien nicht mehr nur Essen und Kleider für den nun schon zweiten Winter. Sie brauchen Wohnraum, Schulplätze, Jobs – eine Perspektive. Die Kindernothilfe packte im Frühjahr 2022 sofort mit an, und sie weicht gemeinsam mit ihren Projektpartnern den Kriegskindern nicht von der Seite.
Hier können Sie, liebe Leserinnen und Leser, auch in diesem Jahr mithelfen. Mit ihren Spenden schenken Sie den Familien, was sie zum Leben in der Fremde brauchen – und zu Weihnachten etwas Trost.
Über die Autorin
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