Das stille Leid der Mütter aus der Ukraine: "Als ob der Tod mich verfolgt"
Text: Annika Fischer, Fotos: Jakob Studnar/Kindernothilfe
Edineț. Die Mütter aus der Ukraine „weinen von innen“. Sagt Viorica Orac, und was die Psychologin meint, kann man sehen an den beiden Olgas. Olga (34) aus Serhijiwka am Schwarzen Meer, die mit ihren Kindern Adrian (15) und Aleksandr (3) um den Mann und Vater trauert, der im Krieg gefallen ist. Und Olga (44) aus Mykolajiw, die stolz von den Kindern Arina (9), Timur (13) und Ilia (6) erzählt, aber für ihren Kummer keine Worte hat. Beide aber finden Trost beim Kindernothilfe-Partner Demos im Norden der Republik Moldau.
Der Vater des kleinen Aleksandr starb als Soldat im September 2022, der von Adrian schon Jahre vorher an einer schweren Krankheit. Und dass ihre Kinder keinen Vater haben, ist für Olga schlimmer als die eigene Trauer. Psychologin Viorica sagt: „Sie fühlt sich schuldig, weil die Männer in ihrem Leben sterben.“ Als die Todesnachricht aus der Ukraine kam, war Olga schon in Edineț, gerade jenseits der Grenze zu ihrem Heimatland. Sie brauchte Hilfe, um es den Kindern zu sagen. Aleksandr war noch zu klein, um zu verstehen, er war erst zwei.
Ukraine, Moldau, hin und her: Wo ist „zu Hause“?
Weil sie Dokumente brauchte nach dem Tod ihres Mannes, musste Olga damals zurückreisen. An jenem Tag war die Region unter Beschuss. Aleksandr fragte: „Wann gehen wir nach Hause?“ Der Jüngste, sagt Olga, hat in Edineț seine Welt. Adrian mit seinen 15 Jahren will auch nach Hause, aber das ist in der Ukraine.
Bei Arina, der Neunjährigen der anderen Olga, wechselt das jeden Tag. Wenn sie das Kind fragen, möchte es „lieber hierbleiben“, und „hier“ ist gerade Moldau. Vor einem Monat, sagt die Mutter, war das noch anders, da habe sich die Tochter schwergetan, wollte zurück in die ukrainische Schule. Arina spricht nicht gern darüber, „beides gut“, sagt sie am Freitag. Und am Samstag vielleicht wieder etwas anderes.
Hund auf der Flucht: Tier reist unbemerkt unter dem Beifahrersitz
Olga aus Mykolajiw erzählt nicht viel von der Nacht, als daheim die ersten Bomben fielen. „Nimm die Kinder und fahr weg!“, sagte ihr Mann, und sie lachen bei der Erinnerung. Denn eines war ja wirklich lustig: Wie sie erst hinter der Grenze bemerkten, dass ein fremdes Hündchen unter dem Beifahrersitz hockte, fast 200 Kilometer schon! Sie nahmen das Tier noch weitere 350 Kilometer mit nach Nordwesten. Seit der gemeinsamen Flucht gehört das Tier zur Familie.
Fröhlich erzählt Olga davon und serviert in dem kleinen, etwas baufälligen Häuschen selbstgebackenen Kuchen. Sie erzählt nicht, was sie dachte, als die ersten Bomben fielen: Das betrifft uns nicht, und es ist bald vorbei. Nicht, dass ihr Mann sie aus der Stadt schickte mit den Kindern und Sachen zum Wechseln für ein paar Tage, als die Russen im Anmarsch waren. Dass sie nicht schlafen konnte wegen der Explosionen und des Militärflughafens nur drei Kilometer entfernt. Und dass es keinen Bunker gab in der Nähe.
Sie erzählt auch nicht von der beschwerlichen Reise, von geschlossenen Geschäften, von den Staus und der Panik. Nicht von dem winzigen Laden am Ortsausgang von Odessa, wo sie ein Brot, drei Bananen und eine Dose Bohnen kaufen konnte für sich und die Kinder. Auch nicht davon, dass das nicht reichte für mehrere Tage und Nächte, die sie an der Grenze festsaßen. Und von dem Wasser und dem Kuchen, den Freiwillige in Moldau ihnen schenkten. „Meine Kinder schluckten, ohne zu kauen. Ich sah es, mein Herz blutete, ich weinte, meine Kinder konnten nicht verstehen, warum ich weinte. Sie waren hungrig und verängstigt.“
Nerven und Seele krank: Wie es ihr wirklich geht, schreibt Olga erst später
Das alles schreibt Olga erst auf, nachdem der Besuch weg ist. „Oft will unser Gehirn all das Schlechte vergessen und an das Gute denken“, steht in ihrer langen WhatsApp-Nachricht. Sie hat es nicht geschafft zu reden, als sie gefragt wurde. Jetzt schickt sie nach, dass sie nur für eine Woche wegwollte und lange gebraucht habe, um zu begreifen, dass es „für eine lange Zeit“ sein würde. Denn zu Hause in Mykolajiw gab es kein Wasser mehr und selten Licht, viele Freunde seien umgekommen. In Edineț, Moldau, reagierte Olga mit Herzproblemen, sie verlor für Tage das Bewusstsein. Ein Jahr später diagnostizierten Ärzte einen Schlaganfall, Olga war halbseitig gelähmt. „Meine Nerven sind außer Kontrolle.“
Die „moldawische Erde“ hat dem kleinen Ilia gutgetan
Inzwischen könnte Olga wieder arbeiten, ein wenig, das sollte ablenken, aber sie findet keinen Job im armen Moldau. Die Psychologen der Kindernothilfe-Partnerorganisation Demos helfen ihr bei den Panikattacken, Verwandte aus der Nähe bringen Kleidung und Essen. Immerhin, den Kindern geht es besser. Der Große weint nicht mehr, wenn er in die Schule muss, die neunjährige Arina schreibt Klassenarbeiten online, und der kleine Ilia: „Seht, wie er in den zwei Jahren gewachsen ist!“ Die moldawische Erde, sagt Olga mit einem Lächeln, „hat ihm gutgetan“.
Und die Unterstützung, die die Familie erfährt. „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich bin“, schreibt die 44-Jährige auf Russisch. „Ich weine und danke allen, die geholfen haben und jetzt helfen, die Dankbarkeit ist unermesslich.“ Und so endet ihre lange Nachricht auf dem Handy: „Das ist die Geschichte unserer Familie, wir sind glücklich, dass wir zusammen und in Sicherheit sind.“
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