Lesbos
Warum die Fischer nicht alle Flüchtlinge retten konnten
Text: Annika Fischer, Fotos: Knut Bry
Die Fischer von Lesbos versuchten, die Boots-Flüchtlinge zu retten, die Organisation Lesol fängt die Menschen auf. So können auch Sie helfen.
Jener Tag im Oktober, als schon wieder drei Kinder ertranken. Der Tag, als nach einem Schiffbruch 70 Menschen im Mittelmeer schwammen. Der Tag, als das Boot mit 300 Insassen sank. Efi Latsoudi hat alle diese Daten im Kopf, es ist jetzt schon sechs Jahre her, aber sie kann sie nicht vergessen. Niemand kann das in Sikamia: 2015 war das Jahr, als bis zu 500.000 Flüchtlinge mit Booten über das Meer kamen nach Lesbos, Griechenland. Efi Latsoudi half, und erst als das Schlimmste geschafft war, gründete sie eine Organisation dafür: Lesvos Solidarity, heute Partner der Kindernothilfe.
Die Fischerleute in dem kleinen Dorf nördlich der Insel-Hauptstadt Mytilini kannten das schon: dass nachts aus der Türkei die Flüchtlingsboote am Strand landeten, mit manchmal ein paar Hundert Menschen an Bord. Sie kannten auch Efi Latsoudi, die damals schon so viele aufgenommen hatte im privaten Camp Pikpa. Aber nun waren es plötzlich Tausende Menschen, sie kamen auch am Tag, „alle fünf Minuten ein Boot“, die ganze Bucht war voll, sagt Efi, von diesen seeuntüchtigen Schlauchbooten. Die Fischer riefen Efi an: „Mach was!“
Verzweifelte Mütter warfen ihre Kinder den Fischern zu
Am meisten machten die Dorfbewohner selbst. Richteten Stationen ein: Hier gab es Essen, dort etwas zu trinken, da eine Bushaltestelle, dass die erschöpften Leute nicht kilometerweit laufen mussten bis nach Mytilini. Vor allem aber fuhren die Fischer hinaus mit ihren eigenen Booten, wieder und wieder, um Menschen zu retten. An einem Abend im November 2021 erzählen sie zum hundertsten Mal, wie Mütter und Väter ihnen ihre Kinder zuwarfen über das Wasser, wie sie sie an Land brachten und rasch zurückkehrten, um aus sinkenden Schiffen auch die Eltern zu holen. Oft war es zu spät.
Die Männer treffen sich regelmäßig in den Tavernen am Hafen, reden über den Sommer 2015 und den Winter danach, als es in dem sonst so ruhigen Fischerdorf auf einmal so voll war. Die Touristen waren fort, die Flüchtlinge waren überall, sie schliefen auf der Straße und zwischen den Olivenbäumen. Das Team um Efi Latsoudi versuchte, sie aufzufangen, sie fuhren trauernde Mütter ins Lager Pikpa, weinten manchmal tagelang mit ihnen. Und sie kümmerten sich um die Kinder. Die 53-Jährige erinnert sich an eine alte Griechin, die mit einem kleinen Mädchen im Arm sagte: „Ich weiß schließlich, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein.“ Denn das gehört zur Geschichte von Lesbos: Das einst türkisch war, man kann von hier aus an guten Tagen die Küste gegenüber sehen. Es ist erst gut 100 Jahre her, dass die Insel an die Griechen fiel und Zehntausende orthodoxe Christen vom Festland über die Meerenge flohen. „Die Menschen haben die Bilder verglichen“, sagt Efi Latsoudi, „die alten Erinnerungen kamen zurück.“
Viele der Retter können immer noch nicht ruhig schlafen
Wenn Latsoudi erzählt von 2015, kämpft sie sichtlich um Fassung, ringt sie um Luft, die ganze Hilflosigkeit kommt wieder hoch. „Es war traumatisierend, auch für uns.“ Die Psychologin hat damals Tote fotografiert, es gab keine Möglichkeiten, sie anders zu identifizieren. „We lost...“, so fangen ihre Sätze an, „Wir haben verloren“. Wir, das sind die Helfer, das sind die unermüdlichen Fischerleute von Sikamia, „verloren“ haben sie die Menschen, die trotzdem ertranken. „Wir haben das Beste versucht“, sagen die Leute im Dorf, „aber wir haben trotzdem so viele verloren.“ Bald hatten sie keinen Platz mehr für all die Beerdigungen. Es gab aber auch keinen Platz für die Trauer, „keinen Ort zum Weinen oder Schreien“, sagt Efi Latsoudi. „Es war für uns der Moment, in dem alles anders wurde.“
So viele Frauen, Kinder, Schiffbrüchige, Trauernde holten sie damals nach Pikpa, versuchen bis heute zu betreuen, zu trösten, zu therapieren. Für die Verletzlichsten suchen sie Wohnungen, sie sorgen für Arbeit, Sprachkurse, sinnvolle Beschäftigung – und helfen durch den Dschungel der griechischen Asyl-Paragrafen. „Wir tun“, sagt Efi Latsoudi entschlossen, „was wir glauben, tun zu müssen.“ Ihre Hilfsorganisation Lesol bekam dafür schon Preise, die Kindernothilfe unterstützt diese Arbeit.
Eine Skulptur der Erinnerung: aus Schwimmwesten und Schlauchbooten
In Sikomia haben sie trotzdem Angst, dass es wieder passiert, bei jedem Boot, das in ruhigeren Sommernächten übers Meer kommt, haben sie Angst. Vor sechs Jahren sind sie nur gerannt, heute wissen sie, was sie erwartet: So viel Tragisches sei passiert, sagt Efi Latsoudi, sie spricht von „dunklen Momenten“. Im Dorf könnten viele immer noch nicht schlafen, sie hätten das Gefühl verantwortlich zu sein, nicht genug geholfen zu haben. Sie können nicht vergessen, sie wollen es aber auch nicht: Gerade renovieren sie eine alte Schule, sie sammeln Fotos, Videos, Zeugenberichte. Ein kleines Museum soll daraus werden und aus den Resten von Schwimmwesten und Schlauchbooten, die überall herumlagen an den Ost-Stränden von Lesbos, die Skulptur einer Meerjungfrau. In der Mythologie ein Symbol für ein hilfloses Wesen, das nur durch eins erlöst werden kann: Liebe.