Die Heimat in der Ukraine: nah und doch so fern
Text: Katharina Nickoleit, Fotos: Christian Nusch
Die kleine Republik Moldau ist eines der ärmsten Länder Europas. Trotzdem kümmern sich die Menschen dort aufopferungsvoll um Geflüchtete aus der Ukraine. Zusammen mit ihrer Partnerorganisation CONCORDIA Sozialprojekte unterstützt die Kindernothilfe sie dabei.
Wenn die Kinder am Nachmittag vom Spielen heimkehren, halten ihre Mütter kurz inne. Gemeinsam schauen sie hinüber in die Heimat und denken an ihre Männer und Väter, Großeltern, Tanten und Onkel, die in der Ukraine geblieben sind. Von der Anhöhe im moldauischen Grenzdorf Tudora sind es nur einige hundert Meter bis in die Ukraine. Manchmal dröhnt gedämpfter Bombenlärm herüber.
„Die Flucht hat ewig gedauert. Eigentlich sind es von Odessa bis hierher nur zwei Stunden Fahrt. Aber an der Grenze war eine endlos lange Schlange, und es dauerte zehn Stunden, bis wir einreisen durften“, erinnert sich Inna. „Unsere Lage schien hoffnungslos. Hinter uns fielen die Bomben, vor uns eine schlammige Straße, es war kalt und wir wussten nicht, was uns erwartet. Und dann waren da hinter der Grenze Menschen, die uns mit Decken und einer warmen Mahlzeit empfingen. Es war wie Licht am Ende eines langen Tunnels.“
Eine der Helferinnen, die da hinter der Grenze wartete, ist Veronica Mocan. „Damals im März waren wir die Einzigen hier, die die Flüchtlinge versorgten.“ Die Leiterin des Zentrums des Kindernothilfepartners CONCORDIA Sozialprojekte hat zu Beginn des Krieges gemeinsam mit ihren Mitarbeiterinnen eine wahre Mammutaufgabe bewältigt. Oft hatten sie nicht mehr als eine Stunde Schlaf. „Es kamen vor allem Mütter mit ihren Kindern. Obwohl es Winter war, hatten viele weder Mäntel noch Stiefel, sie waren Hals über Kopf geflohen und hatten nur Hausschuhe an den Füßen. Manche kamen mitten in der Nacht an. Da kannst du nicht sagen ‚wir haben jetzt Feierabend, kommen Sie morgen‘, da musst du einfach helfen.“
„Angst, dass die Russen auch bei uns einmarschieren“
Auch in Tudora hat sich die Lage inzwischen beruhigt. Ein paar Kilometer hinter dem Grenzübergang ist eine kleine Zeltstadt entstanden, in der Ehrenamtliche verschiedener Organisationen unter der Leitung des UN-Flüchtlingswerkes die Neuankömmlinge versorgen. CONCORDIA Sozialprojekte kümmert sich als einzige ansässige Organisation um die Menschen, die so lange in dem kleinen Ort ausharren wollen, bis sie gefahrlos zurückkehren können. Die Nähe zu ihrer Heimat ist Inna wichtig. „Hier bin ich nah an meiner Familie. Wenn etwas mit meinen Eltern ist oder das Herz meines Mannes nicht mehr richtig mitspielt, kann ich schnell bei ihnen sein. Und wenn der Krieg vorbei ist, sind wir die Ersten, die nach Hause zurückkehren.“
Geflüchtete werden zu einer großen Familie
Sie kommen alle aus Odessa, einer modernen Großstadt. Nun sind sie plötzlich zu Dorfbewohnerinnen und -bewohnern geworden, die im Garten Tomaten und Melonen anbauen. Wie kommen die vier Mütter, die in ihrer schicken Kleidung ein wenig deplatziert wirken, damit zurecht? „Das ist alles völlig unwichtig, wichtig ist nur, dass wir in Sicherheit sind“, meint Yana. „Wir haben, was wir brauchen und die Leute im Dorf sind unglaublich nett und unterstützen uns, wo sie nur können.“ Wie zum Beweis kommt in diesem Moment ihr Nachbar Pavel vorbei, streicht einem der Mädchen über den Kopf und stellt einen Korb mit frisch geernteten Kirschen auf den Tisch. Die Solidarität der Dorfbevölkerung mit denen, die alles verloren haben, ist groß – obwohl oder vielleicht auch gerade weil alle Menschen hier wenig haben.
„Hier muss ich nicht immer an die Bomben denken"
Weil Lilya ihren Vater so schrecklich vermisst, fuhr Darya, als es kurz einmal etwas ruhiger war, mit ihrer Tochter hinüber nach Odessa. „Aber ich hatte so große Angst wegen der Bomben, ich konnte es nicht aushalten“, meint die Achtjährige. „Hier ist alles gut, hier fühle ich mich sicher und muss nicht immer an die Bomben denken.“
So wie die anderen Kinder geht Lilya jeden Tag in das Zentrum von CONCORDIA Sozialprojekte. In den hellen, freundlichen Räumen ist ein kleiner Speisesaal, ist gibt Computer, eine Mal- und Bastelecke. Im Garten steht ein Trampolin und vor dem Haus ein Schwimmteich, der gerade mit vereinten Kräften gereinigt wird.
„Am Anfang sah man genau, welche Kinder Flüchtlinge waren“, erinnert sich Veronica. „Sie weinten viel, waren verschlossen, traurig und verstört. Jetzt lässt sich das nicht mehr auseinanderhalten. Alle spielen gemeinsam, laden sich gegenseitig in ihr Zuhause ein, sind Freundinnen und Freunde geworden.“
Auch für die erwachsenen Geflüchteten ist das der Kindernothilfepartner eine wichtige Anlaufstelle. Nicht nur, weil sie die Waschmaschine nutzen können, sondern vor allem, weil sich hier jede Woche alle Mütter treffen und sich über ihre Probleme und Sorgen austauschen können. „Mit dieser wunderbaren Unterstützung werden wir den Krieg schon irgendwie überstehen“, sagt Yana. „Und wir danken allen, die mithelfen, dass wir hier mit unseren Kindern in Sicherheit sein dürfen.“