"Das Wichtigste ist eine Schule im Camp"
Text und Fotos: Lorenz Töpperwien/© Kindernothilfe
Seit mehr als acht Jahren tobt der Krieg in Syrien. Viele geflüchtete Kinder kennen nichts anderes als das kärgliche Leben und die ausbeuterischen Bedingungen im libanesisch-syrischen Grenzgebiet. Die Schule der syrischen Lehrerin Ghada ist ein wahrer Lichtblick für die Mädchen und Jungen in einer Umgebung, die nichts mit einer normalen Kindheit gemein hat.
Das Camp liegt in der gleißenden Sonne, heiß und staubig. Drinnen ist es nur wenig kühler, aber das Dämmerlicht tut den Augen gut. Wir sitzen in einer geräumigen Hütte aus Zeltplanen mit der Aufschrift UNHCR – das Kürzel der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen. Die Wände sind mit Tüchern verhängt, auf dem sauber gefegten Estrichboden liegt ein dünner, geometrisch gemusterter Teppich. Außer den Sitzmatten entlang der Wände ist das einzige Einrichtungsstück ein Plastikspiegel in Form eines Herzens.
Um uns herum kauern Frauen und Kinder, immer mehr von ihnen trauen sich herein. Die Nachricht, dass Ghada (sprich: Rada) hier ist und Besuch mitgebracht hat, ging wie ein Lauffeuer durch das Lager. Ghada Abo Mesto kennt im Camp fast jeder, weil sie, selbst aus Syrien geflüchtet, die Hilfe für die syrischen Flüchtlinge der libanesischen Gemeinde Ghazzé (sprich: Rasi) zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hat. In ihrer Begleitung sind heute zwei junge Männer aus Deutschland, die viele Fragen stellen: der Videojournalist Florian Gregorzyk und der YouTuber Manniac. Ihre Kameras und Manniacs sorgsam gestylte Igelfrisur ziehen vor allem die Kinder und Jugendlichen magisch an.
Ghada gründet eine Schule in Ghazzé
Ghada hat die beiden mit ins Camp genommen, um ihnen zu zeigen, was es bedeutet, als syrischer Flüchtling im Libanon zu leben. Natürlich, hier sind die Geflüchteten und ihre Familien in Sicherheit, es gibt keine Bomben, keine politische Verfolgung, dafür sind sie dankbar. Aber gerade für die Kinder ist dieser Zustand eine Katastrophe, weil sie nicht in die Schule gehen können – es gibt einfach keine.
Ghada will das ändern. Sie weiß, dass sie das kann, denn sie hat schon Übung darin. Wie die meisten hier stammt sie aus der ehemaligen syrischen Oppositionshochburg Zabadani. Das liegt gleich hinter der Grenze, auf der anderen Seite des nahen Anti-Libanon-Gebirgszugs. Mit dem Auto sind das gerade mal 55 Kilometer, Luftlinie kaum mehr als die Hälfte, aber für sie ist diese Entfernung unüberbrückbar, solange der Kriegsverbrecher Assad in Syrien das Sagen hat. Ghadas Mann wurde 2012 verhaftet, gleich zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs, seitdem ist er verschwunden. Sie rechnet nicht damit, ihn jemals wiederzusehen. Dasselbe gilt für den Vater, die Onkel, eigentlich alle Männer der Familie. Ihre ganze Kraft widmet sie deshalb den Frauen und Kindern. Wem sonst?
Das war schon in Zabadani so. Als dort die Schule ihrer Kinder durch Bomben zerstört wurde, richtete sie mithilfe anderer Mütter in ihrem Viertel eine Behelfsschule ein. Doch dann, 2015, belagerten Regierungstruppen die Stadt und machten alle Hoffnungen auf ein Weiterleben in der Heimat zunichte. Mit ihren drei Kindern und vielen Gleichgesinnten floh sie über die Grenze ins nahe Ghazzé im Libanon. Wieder waren die Kinder ohne Schule, und wieder tat sie sich mit anderen zusammen und schuf Abhilfe. Am Anfang hatten sie nur drei Räume, mittlerweile residiert die Schule in Ghazzé in einem eigenen Gebäude mit acht Zimmern, Gartengelände und Spielplatz für die Pausen.
Dort lernen mittlerweile 350 Schüler im Alter von vier bis sechzehn Jahren. Der Lehrplan füllt eine fatale Lücke zwischen dem syrischen und libanesischen Schulsystem: In Syrien ist Arabisch die einzige Unterrichtssprache, im Libanon dagegen werden viele Fächer von Beginn an auf Englisch unterrichtet. Ghadas Ergänzungsschule gleicht diese Defizite aus und macht die syrischen Flüchtlingskinder fit für den Besuch der libanesischen Regelschulen. Manche von ihnen sind so gut, dass sie mit ihren Leistungen die libanesischen Schüler in den Schatten stellen.
Ein Bürgermeister, der Flüchtlinge willkommen heißt
Der Bürgermeister von Ghazzé macht da nicht mit. Für ihn ist die Sache ganz klar: Die Flüchtlinge bringen die lokale Wirtschaft in Schwung. Als sie in Ghazzé eintrafen, stand fast die Hälfte der Häuser leer, weil so viele Einwohner ausgewandert waren. Erst
die Syrer brachten wieder Leben in die Gemeinde, kurbelten den Konsum an, mieteten mit Geld, das sie aus der Heimat retten konnten, Wohnungen und Grundstücke oder verdingten sich als Erntearbeiter auf den Feldern. Im Gegenzug gewährte ihnen Mohammad Al-Majzoub jede Menge Freiheiten, auch gegen den erklärten Widerstand vorgesetzter Stellen. In Ghazzé dürfen syrische Flüchtlinge arbeiten, heiraten, zur Schule gehen und sich frei bewegen. Sperrstunden? Gibt es bei ihm nicht. Er hat dabei auch die Unternehmerbrille auf: In seiner Plastikfabrik beschäftigt er 40 syrische Angestellte. „Ohne sie“, sagt er, „könnte ich den Laden dichtmachen – Libanesen würden diese Arbeit nicht machen.“
Dank seiner Politik der Offenheit ist Ghazzé bislang von Spannungen verschont geblieben. Das will etwas heißen in einer Gemeinde, in der die Libanesen längst deutlich in der Minderheit sind. Rund 7.000 von ihnen leben noch hier, gegenüber knapp 30.000 syrischen Flüchtlingen. Allerdings schwanken die Zahlen. Eine davon besagt, dass seit 2012 rund 8.000 syrische Kinder in Ghazzé geboren wurden. Sicher belegen lässt sich das nicht. In anderer Hinsicht dagegen herrscht traurige Gewissheit: Die Kinder und ihre Familien blicken einer mehr als ungewissen Zukunft entgegen. Denn auch ein engagierter Bürgermeister wie Mohammad Al-Majzoub kann nicht verhindern, dass der seit mehr als acht Jahren wütende Krieg in Syrien die Lebensperspektive einer ganzen Generation zu vernichten droht.
Nassima sitzt seit 2012 im Libanon fest
Finanzielle Unterstützung gibt es wenig. Weil internationale Hilfsgelder fehlen, zahlt der UNHCR derzeit nur einen Durchschnittsbetrag von rund 20 Euro pro Person und Monat. Fast die Hälfte der Flüchtlinge geht jedoch leer aus. Gleichzeitig steigen die Lebenshaltungskosten, und als wäre das nicht genug, verlangen die libanesischen Behörden für die jährliche Erneuerung der Aufenthaltsgenehmigung horrende Gebühren in Höhe von 180 Euro pro Person.
Da wird ein Angebot wie der kostenlose mobile Gesundheitsdienst zur Überlebensfrage. Er kommt einmal in der Woche ins Lager – für die Flüchtlinge die einzige Möglichkeit, sich medizinisch behandeln zu lassen. Entsprechend groß ist der Andrang. Die häufigsten Beschwerden, sagt der diensthabende Arzt, seien Erkrankungen der Atemwege und der Haut. Patienten mit Bedarf an psychologischer Betreuung überweist er an Fachkollegen.
Eine Schule für Jalil, Alia und all die anderen Kinder im Camp
Zurück im Camp. Im Dämmerlicht der Hütte schildert der 13-jährige Jalil seinen Arbeitstag: Aufstehen um vier Uhr früh, eine Stunde später geht es auf dem Pickup hinaus aufs Feld. Dort ist er zuständig dafür, die Erntearbeiterinnen – ausnahmslos Frauen – mit Wasser zu versorgen und darauf zu achten, dass alle an ihrem Platz bleiben. Rückkehr ins Lager ist um sechs Uhr abends. Das alles sieben Tage die Woche und für einen Hungerlohn von etwa sechs Euro pro Tag.
Viele Kinder müssen wie er auf Farmen, in Restaurants oder Werkstätten arbeiten, oft unter ausbeuterischen Bedingungen. Eine Schule hat Jalil nie von innen gesehen. Auf die Frage, was er einmal werden will, antwortet er: „Vorarbeiter. Aber einer, der die Frauen mit Respekt behandelt. Unser Vorarbeiter ist ein Schwein!“ Dafür erntet er Schulterklopfen und anerkennendes Gelächter von den anwesenden Frauen.
Ein etwa gleichaltriges Mädchen betritt die Hütte und setzt sich still auf den Boden. Das hübsche Gesicht wirkt unkindlich ernst, fast schon verzweifelt, der schmächtige Körper ist angespannt. Alia, so heißt sie, passt tagsüber auf die kleinen Geschwister auf, während die Mutter auf dem Feld arbeitet. Ihre Augen sind feucht, und plötzlich fangen auch einige der Frauen an, zu weinen.
Gibt es denn gar keine Hoffnung? „Das Wichtigste ist eine Schule für die Kinder“, sagt eine Mutter mit fester Stimme. Vor zwei Jahren schöpften sie alle Hoffnung, als eine große internationale Hilfsorganisation im Lager eine solche Schule eröffnete. Alle, die irgendwie konnten, schickten ihre Kinder dorthin. Doch schon nach einem halben Jahr ging der Schule das Geld aus, der Unterricht wurde von einem Tag auf den anderen eingestellt. Die Frauen sind immer noch wütend darüber.
Auch Ghada ärgert sich. Deshalb plant sie jetzt einen neuen Anlauf – eine Schule für viele Jahre. Das passende Gebäude steht schon bereit, ALPHA unterstützt das Vorhaben, die Kindernothilfe prüft derzeit den Antrag. Wenn die langfristige Finanzierung gesichert ist, kann die Schule vielleicht schon bald den Unterricht aufnehmen – damit Jalil, Alia und all die anderen Kinder, die hier leben, endlich eine Perspektive bekommen.