Ruanda: Von der Ersthilfe zur Selbsthilfe
Text und Fotos: Martin Bondzio
Vor 30 Jahren endete in Ruanda das dunkelste Kapitel der jüngeren Geschichte des kleinen zentralafrikanischen Staates. Der barbarische Genozid hinterließ ein traumatisiertes Land, und kaum jemand hätte für möglich gehalten, welch positive Entwicklung es in den Folgejahren nehmen würde.
Ruanda hat es geschafft, sich politisch zu stabilisieren und in der Gesellschaft einen beispiellosen Versöhnungsprozess zu durchlaufen, der bis heute andauert. Die internationale Solidarität mit dem Land ist riesig und ermöglicht große Infrastrukturprojekte, die Ruanda wirtschaftlich voranbringen. Das Wirtschaftswachstum ist mit das stärkste in der Region, was unter anderem an einer effizienten Bekämpfung von Korruption und Vetternwirtschaft liegt, und das Land ist längst dem Status eines Geheimtipps unter Afrikareisenden entwachsen.
Zur Wahrheit gehört aber ebenso, dass sich unter Präsident Paul Kagame autoritäre Regierungsstrukturen verfestigt haben und die ethnischen Spannungen in der Region immer noch schwelen. Realität ist auch, dass der Wohlstand zuerst in den urbanen Zentren des Landes ankommt. Von den 13,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern leben über die Hälfte in extremer Armut. Diese Familien unterstützen wir als Kindernothilfe seit 30 Jahren zusammen mit unserem lokalen Partner African Evangelistic Enterprise Rwanda (AEE).
Kurz nach dem Genozid standen die humanitäre Hilfe und die Versorgung verwaister Kinder im Fokus der Maßnahmen. „Das war eine harte Zeit, auch für uns als Organisation. Wir haben viele Leute verloren“, erinnert sich Phanuel Sindayiheba, Program Manager von AEE. „Die Zusammenarbeit mit der Kindernothilfe hat uns eine Perspektive gegeben.“ In den ersten Jahren arbeitete AEE mit Pflegefamilien in verschiedenen Regionen Ruandas, finanziert über Patenschaften der Kindernothilfe. Doch die Reichweite des Programms war angesichts des enormen Bedarfs limitiert. Um es nachhaltiger und breiter aufzustellen, führte AEE im Jahr 2002 die Arbeit mit Selbsthilfegruppen (SHGs) ein.
„Ich hatte ja keine Ahnung, was in einer SHG alles möglich ist!“
Dieser Paradigmenwechsel sollte sich als Erfolgsgeschichte herausstellen. Über die Jahre wurden 7 976 Selbsthilfegruppen gegründet und damit 206 840 Frauen befähigt, sich eine selbstbestimmte Existenz aufzubauen. 302 042 Kinder profitieren davon, dass ihre Mütter Mitglied in einer Gruppe sind.
Frauen wie Victoria. Bevor sie der Selbsthilfegruppe „Mwendo“ beigetreten ist, lebte sie mit ihrer Familie in einer Mietwohnung, die sie kaum bezahlen konnten. 4.000 RWF, damals umgerechnet knapp 4 Euro, kostete diese im Monat. Eria, ihr Mann, arbeitete als Tagelöhner für 700 RWF am Tag, an den meisten Tagen gab es aber keine Arbeit für ihn. Als Victoria 2018 der SHG beitreten wollte, hielt Eria das für keine gute Idee. „Ich war überhaupt nicht überzeugt. Sie wollte zu einer Selbsthilfegruppe, musste aber dafür 100 RWF (damals 9 Cent) in der Woche bezahlen? Das kann nicht funktionieren, dachte ich.“
Heute ist Eria von der Gruppe überzeugt, unterstützt Victoria und arbeitet voll in ihrem Business mit. Stolz erzählt Victoria von ihrer SHG: „Wir haben uns am Anfang gegenseitig bei unseren Problemen geholfen, Tipps gegeben und uns unterstützt. Das hat mir Mut gemacht. Vor der SHG war ich nur zu Hause, habe nichts gemacht, ich dachte, ich könne nicht arbeiten und dass mein Mann für die Versorgung der Familie zuständig wäre. Ich war immer abhängig von ihm.“ Victoria muss schmunzeln, als sie sich an die ersten Monate in der Gruppe zurückerinnert. „Wenn ich mir doch nur ein Huhn leisten könnte, dann hätte ich ein ganz anderes Leben. Ich hatte ja keine Ahnung, was in einer SHG alles möglich ist!“
SHGs machen Frauen finanziell unabhängig
Die SHGs richten sich zuerst an die Ärmsten in einer Community. Damit sich diese Frauen dem Konzept öffnen, braucht es in der Gründungsphase Vertrauenspersonen. Dafür werden gezielt Frauen aus der jeweiligen Region angeworben und darin geschult, solche Gruppen zu gründen. Vor allem die Männer haben zunächst Vorbehalte, erst recht, wenn sie hören, dass eigenes Geld angespart werden soll. Aber genau das ist der Kern der SHGs, sie sollen mit ihrem eigenen Geld wirtschaften und nicht wieder in eine finanzielle Abhängigkeit geraten. Die Unabhängigkeit der Frauen ist das Ziel des Projekts, deshalb ist es von Anfang an der Plan, dass eine SHG nach drei bis vier Jahren selbstständig ist und keine weitere Unterstützung in Form von Fort- und Ausbildung des Partners mehr benötigt.
„Nach drei Monaten habe ich mir einen Kredit in Höhe von 5.000 RWF von der SHG genommen und zwei Hühner gekauft. Mein Mann hat mir erst nicht geglaubt, dass das Geld von der Gruppe ist. Ich wollte es mit Zinsen so schnell wie möglich zurückzahlen, und das haben wir mit dem Verkauf der Eier auch geschafft!“ Alle Frauen der Gruppe sind so motiviert wie Victoria, und nach kurzer Zeit hatten sie so viele Zinsen gespart, dass jedes Mitglied ein Schwein kaufen konnte. Das hat alles verändert.
Victorias Erfolgsgeschichte ist kein Einzelfall
Starke Mütter = starke Kinder
Und was haben die Kinder von den SHGs? Das ist regional unterschiedlich. So verpflichten sich die Mitglieder zum Beispiel, ihre Kinder zur Schule zu schicken, sie vor Kinderarbeit zu schützen und Mädchen nicht minderjährig zu verheiraten. Es gibt in den Gruppen Fortbildungen zu Erziehung, Ernährung und vielen spezifischen Kinderrechtsthemen. Hier können sich Mütter untereinander austauschen, gegenseitig Tipps geben, Mut machen. Schon das Gefühl, nicht allein zu sein, ist für viele Frauen der wichtigste Faktor in der Gruppe. In den SHGs kommen sie zu einem neuen Selbstverständnis, ihr Selbstbewusstsein wächst, wenn sie sehen, dass sie mitnichten von ihren Männern oder Hilfsorganisationen abhängig sind. Die Kinder erleben, wie ihre Mütter zu handelnden Akteurinnen ihres eigenen Lebens werden und damit zu ihren Vorbildern. In der Gesamtrechnung lässt sich der Vorteil für die Mädchen und Jungen auf eine ganze einfache Formel zusammenfassen: Starke Mütter = starke Kinder.
Stand: 2023