„Der SV Werder Bremen soll für Kinder ein sicherer Hafen sein“
Text: Annika Fischer, Reporterin, Fotos: Jakob Studnar
Der Bundesliga-Erstligist gibt sich – mit Beteiligung von Mädchen und Jungen – ein neues Kinderschutzkonzept, und die Kindernothilfe spielt dabei eine wichtige Rolle. In 30 Ländern hat sie mehr als 650 Organisationen geholfen, den Kinderschutz auf eine professionelle Basis zu stellen. In Deutschland wird diese Dienstleistung vermehrt von Sportvereinen angefragt.
Wie immer haben sie als Erste die Kinder gefragt: Was macht euch Angst? Was könnt ihr gar nicht leiden? Was ist noch lustig, was fühlt sich schon doof an? Die Toiletten, sagten die Kleinen und malten matt beleuchtete und einsame Räume in Warnrot. Über Leistungsdruck sprachen die Jugendlichen, über Mobbing in der Mannschaft und die Unsicherheit, die daraus wachsen kann. „Trashtalk“ (Beleidigungen) fanden die jungen Männer im Fußball-Internat schwierig: Gehört auf dem Platz dazu, aber wo ist die Grenze? Die Ängste verändern sich beim Großwerden, wie die Kinder selbst.
Auch die Deutsche Fußball Liga ist Partner der Kindernothilfe
Es soll aber niemand Angst haben müssen beim SV Werder Bremen, am besten nicht einmal Sorgen. Die „Grenzen“ soll jeder kennen, die Auswege aber auch. Deshalb gibt der Verein, der sich von jeher als „Familie“ versteht, sich und den mehr als 6.000 Kindern unter seinen gut 40.000 Mitgliedern nun ein neues und ganzheitliches Kinderschutzkonzept. „Sicherer Hafen“ heißt es, wir sind ja in der Hansestadt. Alle, ob Profis oder Amateure, ob Fußball- oder Schachspieler und -spielerinnen, machen mit. Und die Kindernothilfe, natürlich. Mit ihrer Abteilung Training und Consulting (T&C) haben die Fachkräfte schon Hunderte von Partnern in vielen Ländern geschult, sind dafür in Deutschland bei Einrichtungen und in (Sport-)Vereinen bekannt geworden. Unter den „Kunden“ sind große Namen: Der VfL Bochum 1848 ist dabei, der VfL Wolfsburg, der FC Bayern München und die Deutsche Fußball Liga (DFL) sowie weitere Vereine im Profi- und Breitensport. Den Schutz der Kinder sicherzustellen, sagt Werders Präsident und Geschäftsführer Dr. Hubertus Hess-Grunewald, sei „eine Aufgabe, deren Bedeutung wir uns absolut bewusst sind“.
Dabei stehen die Grün-Weißen damit keinesfalls am Anfang. Es gibt schon einen Verhaltenskodex, es gibt Leitfäden, aber nun legen sie in Bremen gemeinsam mit der Bremer Sportjugend und dem Bremer Fußball-Verband alles auf den Tisch: Was kann man noch besser machen, „wo ist noch Raum für die, die man doch übersehen hat?“, fragt Michael Arends, Team-Leitung CSR (Abteilung für gesellschaftliche Verantwortung). „Wir bewegen so viele Kinder“, sagt auch Anja Fabrizius, die als CSR-Mitglied auf dem Weg zum neuen Schutzkonzept mit vorangeht. Auch so viele neue kleine Mitglieder in Bolzplatzprogramm und „Windel-Liga“, und sie alle sollen sich sicher fühlen: „Wir wollen den Kinderschutz zum Thema in der Gesellschaft machen, hellhörig machen“ – und selbst hellhörig sein. Und zwar alle, jeder soll ein „Mitmacher“ sein, „wir dürfen das Ehrenamt damit nicht allein lassen“.
Es gibt Timur nicht und auch nicht Tjark, nicht bei Werder Bremen und anderen Vereinen, aber vielleicht gibt es Tim oder Hannah, die Ähnliches erlebt haben. Die Frage ist, die Alof dann stellt: Was tun? Was macht man da?
Kinder brauchen acht Anläufe, bevor sie gehört werden
„Aufeinander achtgeben, ein offenes Ohr haben, sicheres Aufwachsen ermöglichen“, dafür bringt Niklas Alof Leitplanken mit, immer mit dem Ziel: „Wir lassen unseren Verein nicht zum Tatort werden.“ Das mit Timur ist eine „Tat“, keine Frage, justiziabel auch; da muss man die Eltern informieren, die Polizei, wen noch? Grundsätzlich gelte: „So viele wie nötig, so wenige wie möglich.“ Bei Tjark liegt die Sache anders, ein Spaziergang mit dem Trainer ist noch keine Straftat, aber steckt vielleicht mehr dahinter? „Bei mir klingeln da noch nicht alle Alarmglocken“, sagt eine Betreuerin, aber eine bimmelt ganz laut: Alkohol, mit 14! Das geht natürlich gar nicht.
Und trotzdem muss im folgenden Verfahren die Würde des Kindes im Mittelpunkt stehen und auch die des Erwachsenen: Ein Gerücht darf nicht wie ein Lauffeuer durch den Verein gehen, wegen des betroffenen Jungen nicht, aber auch nicht wegen der „verdächtigen Person“. Was, wenn am Ende nichts dran war, der Täter gar kein Täter ist? Dann wären beide beschädigt. „Unaufgeregt“, das betont Alof mehrfach, müssten die Beteiligten das Problem angehen: „An den Fällen, die ihr erlebt, werdet ihr wachsen!“ Denn auch das gehört zum Lernprozess: „Ein gutes System aufzubauen, bedeutet, dass auch Fälle auftauchen.“ Solche, die früher vielleicht übersehen wurden und überhört.
Gewalt fängt schonbei der Wortwahl an
Dabei liegt die Schwelle niedrig, Anja Fabrizius ist das wichtig: „Beim Kinderschutz geht es nicht ,nur’ um sexualisierte Gewalt.“ Wobei gerade im Sport die Grenzen nicht leicht zu ziehen sind: Wie viel Hilfestellung ist noch normal? Wie viel durch Umarmungen geteilte Freude, etwa über einen Sieg? „Es darf nicht dazu führen, dass Trainer nicht mehr wissen, was sie tun dürfen“, sagt eine Betreuerin im Workshop. Wo aber fängt Gewalt an? Manchmal schon in der Wortwahl von Trainern, haben sie aus den Befragungen der Kinder und Jugendlichen gelernt.
Grenzüberschreitung, sagen Julius und Elmin aus dem Fußball-Internat, wäre, wenn der Trainer in ihren privaten Zimmern nach dem Rechten sähe. Druck beginnt aber auch schon, wenn vor den Ferien in der Schule die Klausurenphase ansteht und auf dem Platz der Kopf frei sein soll. Niemand will hier klagen, es geht bloß um das Bewusstsein: Wo fängt für die Jüngsten im Verein der Stress an? „Jeder“, sagt Anja Fabrizius, „hat seine eigenen Grenzen.“
„Ob bei Auswärtsfahrten unserer Jugendteams, in der Umkleide nach dem Handballtraining, in den Kids-Club-Angeboten oder bei den Einlaufkids am Heimspieltag“, zählt Präsident Hess-Grunewald auf: „Der SV Werder soll für Kinder und Jugendliche ein sicherer Hafen sein – und sollte dem mal nicht so sein, muss es ein funktionierendes Kinderschutzsystem geben, in dem aufgeklärte, kompetente und befähigte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Hilfestrukturen kennen.“