Kindernothilfe. Gemeinsam wirken.

Die Herausforderung, das Unvorstellbare zu erzählen

Text: Esther Krause, Bilder: Kindernothilfe

Bei der Medienpreis-Verleihung 2024 der Kindernothilfe gewann Sebastian Bellwinkel mit seinem Film "Das Tabu im Tabu - Kindesmissbrauch durch Frauen" den "Story on Stage"-Preis. Er berichtet, wie seine Recherche verlief, wie er persönlich mit der Emotionalität der Thematik umgeht und welche Wirkung seine Arbeit erzielt.

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Der Titel Ihres Films sagt es selbst: Der Kindesmissbrauch durch Frauen ist ein Tabuthema.

Was glauben Sie, sind die Faktoren, die dazu beitragen, dass es ein so starkes Tabu in unserer Gesellschaft ist?

Da spielen mehrere Faktoren zusammen. Ganz zentral ist die Annahme: Eine Frau würde so etwas Schlimmes niemals tun. Der Hintergrund dafür ist der sogenannte Mutter-Mythos: Die Mutter gebärt das Kind, stillt es, zieht es (meistens) auf. Deshalb, so die Annahme, könnte sie ihrem Kind niemals Schaden zufügen. Genauso hat es mir auch der leitende Ermittler der Kripo in Freiburg gesagt, der den sogenannten Staufen-Fall bearbeitet hat.
Dann kommt tatsächlich die Macht der feministisch geprägten Erzählung vom Mann als Unterdrücker und Missbraucher hinzu. "Väter sind Täter" und ähnliche Pauschalaussagen sind fest in vielen Hinterköpfen verankert. Und es ist mehrfach dokumentiert, dass Fachkräfte aus der Beratungsszene, die die oftmals auch übergriffige Art von Frauen thematisiert haben, mit dem Vorwurf konfrontiert worden sind: Ihr wollt doch jetzt nicht die eigentliche Täter-Rolle und Verantwortung der Männer relativieren? Diese "Argumentation" findet sich auch bei der vermeintlich weniger schlimmen "Mit-Täterschaft" von Frauen, die Taten angeblich nur begehen, weil sie ihrem Partner hörig seien. Als seien sie völlig unmündig. Emanzipation bedeutet in letzter Konsequenz aber eben, dass Frauen auch aus eigenem Antrieb zu so etwas Schlimmen fähig sind. Und wegen eben dieser Tabus ist die Täterinnenschaft auch in der Wissenschaft und Forschung bislang völlig unterbelichtet. Das heißt, das Tabu wirkt überall.

 

Wieso haben Sie sich trotzdem mit dem Thema beschäftigt?

Ich befasse mich seit 2009 mit dem Thema der sexualisierten Gewalt gegen Kinder, habe seitdem zahlreiche Dokus zu dem Phänomen realisiert für die Sender der ARD. Mir sind in meinen Recherchen immer wieder Frauen als Täterinnen begegnet, z. B. 2015 bei meiner ARD-Doku über den Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche "Das Schweigen der Männer." Dort waren es Ordensschwestern, die sich über Jahre an ihnen anvertrauten Kindern vergangen haben, zum Teil auch, indem sie die Kinder männlichen Tätern zugeführt haben. Die katholische Kirche hat die Orden bei ihren offiziellen Studien hübsch rausgelassen. Mir ist das aber nicht aus dem Kopf gegangen, denn diese Betroffenen, das war mir schon damals klar, haben es doppelt schwer: Wer sollte ihnen denn glauben, dass Frauen zu so etwas im Stande sind?

 

 
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"Story on Stage"-Preis-Gewinner Sebastian Bellwinkel und Kindernothilfe-Botschafterin Valerie Niehaus beim Kindernothilfe-Medienpreis 2024 (Quelle: KNH/Ralf Krämer)
Sebastian Bellwinkel mit Laudatorin am Abend, Schauspielerin und Kindernothilfe-Botschafterin Valerie Niehaus (Quelle: KNH/Ralf Krämer)
"Story on Stage"-Preis-Gewinner Sebastian Bellwinkel und Kindernothilfe-Botschafterin Valerie Niehaus beim Kindernothilfe-Medienpreis 2024 (Quelle: KNH/Ralf Krämer)
Sebastian Bellwinkel mit Laudatorin am Abend, Schauspielerin und Kindernothilfe-Botschafterin Valerie Niehaus (Quelle: KNH/Ralf Krämer)

Können Sie uns von Herausforderungen berichten, die Sie während der Recherche und Produktion der Reportage überwinden mussten? 

Ich kümmere mich als Autor und Regisseur immer wieder um harte Themen. Aber die Realisierung dieser Doku war die härteste Nuss. Als Freiberufler muss ich von einem Thema zunächst eine Produktionsfirma überzeugen, die mit mir den Film einem Sender anbietet. Und dort muss dann eine Redaktion das Thema "sehen" und einkaufen. Das war noch nie so schwer wie bei diesem Film. Ich habe vom ersten Exposé bis zur Realisierung über drei Jahre gebraucht, weil es immer wieder Absagen gab. "Oh nein, damit handeln wir uns nur Ärger ein.", "Willst du dich mit den Feministinnen anlegen?", "Davon hat man doch noch nie etwas gehört", "Zu spitze Zielgruppe!", usw. Die Vorbehalte in den Sendern waren riesig. Öffentlich-rechtliche Sender wohlgemerkt, zu deren Grundauftrag es eigentlich gehört, denen eine Stimme zu geben, die keine haben - die Betroffenen sexualisierter Gewalt. 

 

Wie haben Sie es trotz "geschlossener Türen" geschafft, dem Thema im Rahmen Ihrer Recherche Aufmerksamkeit zu widmen?

Am Ende konnte ich eine Redakteurin, die ganz neu war beim SWR und die ich persönlich von früher kannte, von dem Thema überzeugen. Und sie hatte den Mut und die Kraft, bei der Abstimmung in der Redaktion für eine Mehrheit zu sorgen. Ohne sie wäre das vermutlich nie etwas geworden.

Wie gehen Sie persönlich mit der Emotionalität der Thematik um?

Es war, wie gesagt, mein siebter oder achter Film zum Thema der sexualisierten Gewalt gegen Kinder. Aber keiner hat mich so an den Rand meiner nervlichen Belastung gebracht wie dieser. Ich habe in der Recherche so schlimme Details gelesen und erfahren, die auch mich - trotz aller Erfahrung - sehr belastet haben. So sehr, dass ich mir selber therapeutische Hilfe im Rahmen einer Supervision holen musste. Das hat mir sehr geholfen, weil ich dadurch Techniken an die Hand bekommen habe, die mir jetzt im Ernstfall sehr helfen.

 

Welche Veränderungen oder Reaktionen erhoffen Sie sich als Ergebnis der Veröffentlichung des Films? Welche Resonanz haben Sie bereits erhalten?

Das sehe ich nach so vielen Jahren mit der Thematik sehr nüchtern. So eine TV-Dokumentation rüttelt im ersten Moment immer sehr auf. Ich habe mit früheren Filmen immerhin erreicht, dass ein paar Gesetze geändert worden sind. Mittlerweile aber bin ich froh, wenn meine Filme helfen, ein paar Politiker*innen oder Strafverfolger*innen zumindest wachzurütteln und Zuschauende zu sensibilisieren, bei ihren Kindern genauer hinzuhören und hinzuschauen. Das große Tabu ist, dass niemand es wahrhaben will, wie verbreitet sexualisierte Gewalt gegen Kinder tatsächlich ist. Am häufigsten passiert es im sozialen Nahfeld, in der Familie. Das zu realisieren, ist für alle Beteiligten die Hölle. Aber wer nicht durch die Hölle gehen mag, wird den Betroffenen, den (eigenen) Kindern nicht helfen können.
Die Resonanz zu dieser Doku jedenfalls war enorm. Wir haben sehr viele Zuschriften bekommen von Menschen, die sagten: Endlich berichtet ihr mal darüber. Endlich sieht mal jemand, was uns widerfahren ist oder immer noch widerfährt. 

 

Welche Maßnahmen sehen Sie als notwendig, um die Prävention und den Schutz von Kindern vor dieser Art von Missbrauch zu verbessern?

Oh, dafür reicht dieses Interview nicht aus… es braucht sehr viel. Zuallererst muss sich jede*r in unserer Gesellschaft vor Augen führen: Auch Frauen können so etwas tun. Wenn man das für möglich hält, verändert das schon mal den Blick, weil man bei einem Verdacht nicht nur auf mögliche Täter schaut, sondern auch auf mögliche Täterinnen. Diesen Wandel müssen auch Behörden hinbekommen: Sozialarbeit, Polizei, Staatsanwaltschaft, Familiengerichte und viele mehr. Kinder und Jugendliche, die von männlichen Tätern misshandelt werden, bekommen schon zu wenig Aufmerksamkeit und Hilfe. Den Betroffenen von Täterinnen glaubt bislang nahezu keiner. Das muss sich endlich ändern. 

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